Taurus und (k)ein Ende

Verdrängte Überlegungen zu einem möglichen Nuklearen Holocaust?

Von Dagmar Henn (via RT)

Nein, das ist wahrscheinlich immer noch nicht das Ende der Debatte um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine. Kaum vorstellbar, dass Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, die Rüstungslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann und andere fanatische Befürworter plötzlich erleuchtet werden und von ihren Forderungen ablassen.

Die russische Aussage, eine solche Lieferung werde als Beteiligung gewertet, darf schlicht nicht ernstgenommen werden, weil damit das „russische Narrativ“ bedient würde. Als bestünde die Welt nur aus Erzählung und wäre nicht doch ein solides Stück Materie, und außerhalb von Denken und Erzählung noch eine Wirklichkeit mit ganz handfesten Gegebenheiten.

Die bei Taurus allerdings an einem nicht ganz unbedeutenden Punkt nicht ganz klar sind. Im vergangenen Jahr gab es eine schriftliche Anfrage der Abgeordneten Sevim Dağdelen, deren Beantwortung deutlich mehr Aufmerksamkeit hätte hervorrufen müssen. Nicht obwohl, sondern gerade weil die Antwort keine Antwort war.

Dağdelen stellte zwei Fragen. Ob eine Begrenzung der Reichweite der Taurus reversibel sei, und ob der Marschflugkörper auch mit einem nuklearen Gefechtskopf genutzt werden könne. „Die Beantwortung der Frage kann in offener Form nicht erfolgen“, erwiderte Thomas Hitschler, Staatssekretär im Verteidigungsministerium.

Diese Antwort ist ergiebiger, als sie auf den ersten Blick aussieht. Wer schon eine Reihe derartiger Antworten gesehen hat, weiß, dass in der Regel die Punkte einzeln beantwortet werden, wenn nur einige davon unter die Vertraulichkeit fallen. Die Form der Antwort bestätigt also, dass auch die Aussage zur Atomwaffenfähigkeit der Taurus vertraulich ist.

Wobei es bei der Frage zur Aufhebung einer Reichweitenbegrenzung nachvollziehbar ist, weil das durchaus in die technischen Details gehen kann, beispielsweise, welche der vier Lenkungssysteme die anderen übersteuern können; aber die Frage nach einem Einsatz mit nuklearem Sprengkopf? Zu einem Zeitpunkt, an dem ein ausgeprägtes deutsches Interesse daran vorausgesetzt werden kann, möglichst klar zu signalisieren, dass man mit derartigen Waffen nichts zu tun haben wolle?

Dann wäre es in der Tat etwas seltsam, sich eine Gelegenheit entgehen zu lassen, um sich selbst und auch ein vorhandenes Waffensystem von diesem Verdacht zu befreien. Denn ohne Grund die Vermutung im Raum stehen zu lassen, ein derartiger Einsatz wäre möglich, wäre tatsächlich ein Akt erlesener Idiotie, weil die denkbaren Reaktionen dadurch völlig anders aussehen.

Diese Frage tauchte am Rande auf in der Diskussion um die F 16. Diese US-amerikanischen Flugzeuge sind bekanntlich als Träger für atomare Raketen und Bomben geeignet. Woher, so die Frage, sollte die russische Seite die Sicherheit erhalten, dass diese Flieger nur mit konventionellen Waffen bestückt sind, wenn sie starten? Es ist eines der Zeichen für den Verfall der Debatte in Deutschland, dass derartige Überlegungen nicht mehr üblich sind.

Das Problem in diesem Zusammenhang sind nicht mehr reversible Konsequenzen. Missverständnisse im Zusammenhang mit Atomwaffen sind keine gute Idee, und es ist vernünftig, sie soweit wie irgend möglich zu vermeiden. Nachdem Missverständnisse aber desto wahrscheinlicher sind, desto niedriger das wechselseitige Vertrauen ist, war die Gefahr von Missverständnissen noch nie so hoch wie derzeit. Die Konsequenz daraus müsste lauten, nicht nur den Einsatz der tabuisierten Waffen selbst zu unterlassen, sondern außerdem Zweideutigkeiten nach Kräften zu vermeiden. Und ein Vermeiden von Zweideutigkeiten ist nur möglich, indem auch der Einsatz von Waffensystemen, die eventuell in dieser Weise genutzt werden könnten, unterbleibt.

Das Bewusstsein dafür, dass eine nukleare Eskalation anderen Regeln folgt, scheint inzwischen verloren gegangen zu sein, zumindest im Westen. Also nur als Gedankenspiel: Gesetzt den Fall, die besagten Taurus könnten auch mit einem nuklearen Gefechtskopf eingesetzt werden, das tragende Flugzeug ist gestartet und der Marschflugkörper ist abgeschossen – wäre es eine vernünftige Reaktion von russischer Seite, zuzusehen und abzuwarten, was es letztlich ist, das dann explodiert? Klar, da wird es Versuche geben, das Ding abzufangen. Der Gefechtskopf wiegt etwa eine halbe Tonne. Gesetzt den Fall, die Reichweite würde maximal genutzt (da muss man nur an die Fantasien des Herrn Kiesewetter denken), ergäbe das eine Flugzeit von einer halben Stunde von Start bis Ziel.

Was würde in dieser halben Stunde passieren? Was, wenn das Ziel Moskau heißt? Nach all den Täuschungen von westlicher Seite, der zunehmenden Unberechenbarkeit des politischen Handelns (die Debatte um den offenen Einsatz von Truppen, die der französische Präsident Emmanuel Macron angestoßen hat, belegt, wie chaotisch die inneren Zustände mittlerweile sind) … Kann man da noch voraussetzen, dass es sich nicht um einen maximalen Schaden auslösenden, sondern einen begrenzten konventionellen Angriff handelt? Beziehungsweise kann der Westen, in welcher seiner vielen Gestalten auch immer, als Bundesregierung, NATO, EU, es von seinem Gegenüber, das er zum Feind gemacht hat, allen Ernstes erwarten, in ihm stets das Beste zu sehen?

Wie gesagt, eine vernunftgeleitete Antwort seitens des Verteidigungsministeriums auf die damalige Anfrage hätte betont, dass die Taurus rein gar nichts mit atomarer Bewaffnung zu tun hat. Und man hätte auch noch nachlegen können, als das Gespräch zwischen diesen Luftwaffengenerälen auftauchte. Denn darin taucht ein Stichwort immer wieder auf, das in diesem Zusammenhang ungünstige Assoziationen weckt: Büchel.

Wie hieß es nochmal in diesem Telefonat?

„Das kann man theoretisch sogar aus Büchel machen mit einer sicheren Leitung in die Ukraine rüber, den Datenfile rübertransferieren, und dann wäre er verfügbar und man könnte es gemeinsam planen.“

Beispielsweise. Nun, wenn eine Steuerung dieser Lenkraketen aus Büchel naheliegt, dann dürfte Büchel auch einer der Hauptstationierungsorte sein. Was passt, weil aus Büchel Tornados fliegen, die dort nicht nur als Träger für die Taurus vorgesehen sind, sondern auch für Atomwaffen. Im Rahmen dessen, was sich „nukleare Teilhabe“ nennt – was aber letztlich nur bedeutet, dass Bundeswehrpiloten nach einer Freigabe durch die USA US-amerikanische Atombomben abwerfen dürfen.

Ist es vollkommen unvorstellbar, dass der Marschflugkörper Taurus mit einem nuklearen Sprengkopf versehen werden kann? Es wäre ein Leichtes gewesen, diese Möglichkeit in der Antwort auf diese Anfrage zu dementieren. Es wäre sinnvoll gewesen, sie zu dementieren. Der naheliegendste Grund für das Fehlen dieses Dementis ist, dass sie eben nicht dementiert werden kann.

Sicher, das würde voraussetzen, dass in Büchel andere atomare Sprengköpfe als die der B61-12 gelagert würden, oder dass die Taurus (was ebenfalls denkbar ist) von vorneherein kompatibel konzipiert wurde. Ist das unvorstellbar? Oder wäre das, vor dem Hintergrund der mangelnden Genauigkeit der alten Versionen der B61, eine Möglichkeit der Zweitverwertung?

Ja, im gewöhnlichen Alltag würde man derartige Spekulationen lassen, weil sie keinen Sinn machen. Unter Bedingungen begrenzten Wissens und bei extremen Konsequenzen insbesondere beim Unterschätzen oder Übersehen einer Gefahr, sprich, unter den in einem Krieg normalen Rahmenbedingungen, sieht das aber anders aus. Logisch begründbare Spekulation wird zu einem unverzichtbaren Hilfsmittel, um die Lücken im Wissen zu schließen, wenn Abwarten und Nichthandeln keine Option sind.

Und es gab diesen einen Moment auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2022, der im Westen immer gern verdrängt wird: als der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij Atomwaffen für die Ukraine forderte. Wobei diese Aussage selbst kaum Bedeutung erlangt hätte, wäre irgendeine Reaktion seitens der anwesenden westlichen Politiker erfolgt. Und wenn es der Hinweis auf den Atomwaffensperrvertrag gewesen wäre.

Aber es erfolgte keine Reaktion, schon gar keine Zurückweisung dieser Fantasien, und das wurde vermerkt. Was ein davor nicht vorhandenes Problem geschaffen hat, denn plötzlich musste auf der anderen Seite auch die Möglichkeit, dass Kiew Zugriff auf derartige Waffen erhalten könnte, Bestandteil der Planungen werden.

Wie gesagt, das ist das Ding mit den vergessenen Lektionen des Kalten Kriegs. Dass man ein Minimum an wechselseitigem Vertrauen um jeden Preis aufrechterhalten sollte. Dass man sich darüber im Klaren sein sollte, welche neuen Vermutungen und Möglichkeiten in den Berechnungen des Gegenübers auftauchen, wenn man bestimmte Schritte unternimmt. Und dass man tunlichst alle Varianten zu vermeiden sucht, die auf der anderen Seite unbegründete Befürchtungen eines nuklearen Angriffs aufkommen lassen.

Das ist keine Frage von Paranoia. Das ist die Bewertung eines Felds von Möglichkeiten, über die man wenig weiß und für die man vielfach nur Wahrscheinlichkeiten vergeben kann, das aber, weil das Ziel Risikominimierung heißt, auch dort berücksichtigt werden muss, wo die Wahrscheinlichkeiten gering sind. Wobei jede Variante im eigenen Interesse unterlassen werden sollte, die auf der anderen Seite dazu führen kann, dass eine Bedrohung gesehen wird, die nicht vorhanden ist.

Es gibt übrigens einen weiteren Punkt, der den Verdacht in Hinsicht auf die Taurus bestärken könnte. Die Taurus unterscheidet sich von ihren „Kolleginnen“ Scalp und Storm Shadow vor allem in der Reichweite; die Sprengkraft ist ähnlich; die Lenkraketen stammen sogar vom gleichen Hersteller. Die bisherigen Angriffe durch diese Raketen auf die Brücke von Kertsch waren nicht wirklich erfolgreich, weil die modulare Bauweise eine schnelle Wiederherstellung ermöglicht. Das einzige Mittel, durch das diese Brücke tatsächlich zerstört werden könnte, was aus irgendeinem unerfindlichen Grund ein Herzenswunsch des Westens scheint, wäre der Einsatz einer taktischen Nuklearwaffe.

Es gibt also für Russland gute Gründe, die ganze Debatte mit einer gehörigen Portion Misstrauen zu betrachten, und es gäbe ebenso gute Gründe für die deutsche Politik, dieses Misstrauen nach Kräften zu zerstreuen. Allerdings wird dieser bedeutende Schritt – nachzuvollziehen, wie man Ereignisse und Informationen bewerten würde, befände man sich an der Stelle des Gegners – mittlerweile nicht nur nicht mehr geübt, er wird geradewegs verteufelt. Was letztlich dazu führt, dass eine unfähige Politik von einem ebenso unfähigen Militär begleitet wird, beide aber erstklassig darin sind, für sich selbst unnötige Risiken zu erzeugen. Wie Taurus.

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