tkp berichtet: Univ.-Doz.(Wien) Dr. med. Gerd Reuther
Es sollte zu denken geben, dass ein isolierter geistiger Verfall in ursprünglicheren Gesellschaften bis heute ebenso wenig ein Thema ist, wie es dies in den Industrieländern bis zum 20. Jahrhundert der Fall war. Die Schlüssel-Beschreibung einer Alzheimer-Erkrankung durch den Namensgeber Alois Alzheimer (1864-1915) datiert von 1906. Natürlich gab es auch schon früher Fälle von geistigem Verfall im Rahmen verschiedenster Krankheiten. Aber es handelte sich immer um Einzelfälle. Erst seit den 1980er Jahren sind „Demenzen“ in aller Munde. Die gestiegene Lebenserwartung kann man nicht einfach zur Ursache für den intellektuellen Verfall erklären, da der Erkrankungsbeginn in einem Alter liegt, das auch schon früher erreicht wurde.
Delir oder Demenz?
Es sollte zu denken geben, dass vermeintliche „Demenzen“ in Ländern besonders häufig sind, in denen der Konsum an Produkten der Pharmaindustrie hoch ist. Bei jeder Einschränkung der intellektuellen Leistungsfähigkeit spielt eine Beeinträchtigung von Botenstoffen im Gehirn eine wichtige Rolle. Der Botenstoff Acetylcholin ist für zentrale Gedächtnisfunktionen des „Speicherns“ und „Wiederherstellens“ wichtig. Medikamente, die in diese Vorgänge eingreifen können Verwirrtheit hervorrufen.
Dies betrifft nicht nur alle Psychopharmaka, auf die im Alter grundsätzlich verzichtet werden sollte. Viele Mittel gegen Harninkontinenz, Migräne oder Asthma gehören dazu. Auch als unverdächtig geltende Medikamente wie die immer noch kritiklos und oft unnötig lange verordnete Kortisonpräparate, manche Antibiotika (z.B. Fluorochinolone) oder sog. nicht-steroidale entzündungshemmende Schmerzmittel (z.B. Ibuprofen) können das Bild einer „Alzheimer-Krankheit“ vortäuschen. Dies gilt auch für den marktführend bei Parkinson-Symptomen verordneten Wirkstoff Levodopa. Bei der meist gleichzeitigen Einnahme dieser Substanzen wird der Effekt gar noch potenziert.
Vergesslichkeit, Unruhe oder Aggressivität sind daher häufig einem sogenannten Delir geschuldet, welches durch Medikamente erst erzeugt oder vertieft wird. Dennoch werden diese Symptome zunehmend als „dementiver Abbau“ verkannt. Der fließende Übergang medikamentöser Beeinträchtigungen zum Etikett „Demenz“ wird stillschweigend von Angehörigen und medizinischem Personal hingenommen. Ist die Diagnose „Demenz“ oder „Alzheimer“ bei Menschen jenseits des „erwerbsfähigen Alters“ erst einmal gestellt, wird es häufig schwierig, aus diesem bereits zum gesellschaftlichen wie medizinischen Stigma auszubrechen.
Die Problematik verschärft sich bei der heute zunehmend verbreiteten Unterbringung alter Menschen in Alten- und Pflegeheimen, in denen pflegeleichte Ruhigstellung Vorrang vor Ursachenforschung und personalintensiveren Therapieoptionen hat. Mehr als die Hälfte der über 70-Jährigen nehmen regelmäßig fünf und mehr Medikamente ein. Dazu kommt noch die Selbstmedikation der Betroffenen, die trotz zwischenzeitlich vorgeschriebener Medikationspläne nicht hinreichend erfasst wird.
Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen pro 5 gleichzeitig eingenommener Medikamente in der Altersgruppe über 60 Lebensjahren 10mal höher als im mittleren Lebensalter. Das hat vor allem mit den langsameren Abbau- und Ausscheidungsvorgängen im Alter zu tun. Wird die Dosierung eines Medikaments nicht mit dem Lebensalter abgesenkt, ist eine Überdosierung unvermeidlich. Nicht wenige Senioren versterben wahrscheinlich an toxischen Medikamentenwirkungen, ohne dass dies erkannt wird. Je mehr Medikamente, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer Demenz-Diagnose, die gar nicht zutrifft.
Ein weiteres starkes Indiz für die medikamentöse Ursache vieler „Demenzen“, die in Wirklichkeit medikamentös verursachten Deliren entsprechen, sind die intellektuellen Beeinträchtigungen nach operativen Eingriffen in Narkose im Alter. Bei ¼ der Operierten über 70 Jahren tritt ein Verwirrtheitszustand auf. Geringer ausgeprägt als sogenanntes kognitives Defizit bezeichnet, sind sogar bis zu 40% betroffen. Bei der Hälfte der Betroffenen bildet sich die Symptomatik nicht zurück. Es verbleiben vor allem Gedächtnisstörungen und Beeinträchtigungen bei der Bewältigung intellektueller Aufgaben, also Symptome, die gemeinhin als Charakteristika einer Demenz gelten. Daher sollten Operationen in Vollnarkose nur in Ausnahmefällen bei Senioren zur Anwendung kommen.
Was ist zu tun?
Es ist offensichtlich, dass mit der oft unreflektierten Übermedikation die Schein-Diagnose „Demenz“ ihren Einzug in den Alltag der Menschen hielt. Deren „pandemische“ Verbreitung ist bei durchschnittlich 8-10 Medikamenten im Alter kein Wunder. Positiv- und Negativlisten für Medikamente haben bisher keine Besserung gebracht. Diese Listen der bedenklichen Medikamente werden in der Praxis häufig ignoriert. Schädigende Substanzen erst nach Jahren oder gar Jahrzehnten vom Markt genommen. Daher sollte jeder Medikamentenkonsum vom Einzelnen, aber auch in Familien, Nachbarschaften, Gemeinden und Gesellschaften grundsätzlich überdacht werden. Bei jeder Einschränkung der intellektuellen Leistungsfähigkeit ist es ratsam, möglichst viele – am besten alle! – Medikamente abzusetzen. Nicht selten klaren Menschen innerhalb Tagen oder wenigen Wochen auf und sind wieder in der Lage ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Alleine diese Perspektive sollte es Wert sein, vermeintlich notwendige Pharmaka abzusetzen.
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Univ.-Doz.(Wien) Dr. med. Gerd Reuther ist Facharzt für Radiologie, Medizinaufklärer und Medizinhistoriker. In Kürze erscheint „Die Eroberung der Alten und Neuen Welt. Mythen und Fakten“. Er hat insgesamt acht Bücher veröffentlicht. Zuletzt zusammen mit seiner Ehefrau „Die Eroberung der Alten und Neuen Welt. Mythen und Fakten“.